We need a multipolar world | Wir brauchen eine multipolare Welt

Über Gespräche zur Verhinderung einer weiteren Eskalation des Kriegs in der Ukraine, die Stellung des Westens und einen Ausweg aus der US-Hegemonie. Ein Gespräch mit Jeffrey Sachs

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Sie sind hier in Wien, um an einer Friedenskonferenz teilzunehmen und einen Vortrag über den »Weg zum Frieden in der Ukraine« zu halten. Gibt es einen Weg zum Frieden?

Ja, denn der Krieg ist in niemandes Interesse. Alle Parteien, das sind die Ukraine, Russland, die USA und die EU, wären mit einem ausgehandelten Frieden viel besser dran – insbesondere die Ukraine.

Im vergangenen Jahr gab es mehrere Friedensinitiativen aus China, Brasilien und zuletzt Indonesien*. Warum sind bisher alle gescheitert oder gar nicht erst in Betracht gezogen worden?

All diese Friedensinitiativen sind nicht ohne Erfolg. Es gelingt ihnen zu zeigen, dass die EU auf dem falschen Weg ist. Brüssel kam völlig vom Weg ab, indem es zum Spielball der US-amerikanischen Neokonservativen wurde. Die USA und die EU dachten, die gesamte Welt würde sich auf die Seite des »Westens« stellen. Statt dessen verhält sich die nichtwestliche Welt neutral oder stellt sich sogar auf die Seite Russlands.

Der Westen behauptet, dies nicht zu verstehen. Die Erklärung ist einfach: Die nichtwestliche Welt lehnt die Hegemonie der USA ab. Europa sollte auch die Hegemonie der USA ablehnen. Die NATO-Erweiterung ist das falsche Instrument für die europäische Sicherheit. Die OSZE ist der richtige Weg.

Was könnte eine nachhaltige Regelung für dauerhaften Frieden in der Ukraine sein?

Lassen Sie mich hier ein Beispiel für eine nachhaltige Vereinbarung geben – wobei ich mir bewusst bin, dass es noch andere Ansätze gibt, die erfolgreich sein können: Die Ukraine wird neutral werden, die russischen Truppen werden sich zurückziehen, die NATO wird die Bewaffnung der Ukraine einstellen und die Neutralität der Ukraine akzeptieren. Der Ukraine wird ein klarer Zeitplan für den EU-Beitritt vorgegeben, und der UN-Sicherheitsrat wird ihre Sicherheit sowie Souveränität gewährleisten. Die Kämpfe werden in der jetzigen Form sofort eingestellt, die künftige politische Lage auf der Krim und den umkämpften Gebieten wird in fünf Jahren durch Referenden unter der Aufsicht der Vereinten Nationen entschieden. Die russische Marine wird für die nächsten 30 Jahre ihren Marinestützpunkt in Sewastopol behalten. Die Wirtschaftssanktionen gegen Russland werden aufgehoben und die Vermögenswerte des Landes wiederhergestellt. Die EU und Russland werden einen neuen Handelsrahmen aushandeln, einschließlich Handelsvereinbarungen zwischen Russland und der Ukraine. Alle Parteien, also USA, EU und Russland, werden finanziell zum Wiederaufbau der Ukraine beitragen. Die EU, die Ukraine, Russland und andere OSZE-Mitgliedstaaten werden über eine gestärkte OSZE verhandeln.

Dies ist nur ein Beispiel, zeigt aber, wie die Sicherheit und die wirtschaftlichen Interessen aller Parteien im Rahmen eines Friedensprozesses respektiert werden können.

Lassen Sie uns über die Ursprünge des Krieges sprechen: Anfang des Jahres haben Sie einen Ihrer Artikel mit »Der neunte Jahrestag des Ukraine-Krieges« betitelt. Der ­Ukraine-Krieg begann doch mit dem Angriff der russischen Truppen im Februar 2022, oder etwa nicht?

Der Krieg begann mit dem gewaltsamen Sturz von Wiktor Janukowitsch im Februar 2014 und der sofortigen Anerkennung des neuen Regimes durch die USA und die EU trotz des gewaltsamen Aufstands. Die USA trugen zu Janukowitschs gewaltsamem Sturz bei, wie aus einem aufgezeichneten Telefonat der stellvertretenden US-Außenministerin Victoria Nuland, die jetzt Unterstaatssekretärin (in der Regierung von Präsident Joseph Biden, jW) ist, hervorgeht. Sie plante in der Tat mit dem US-Botschafter in Kiew, Geoffrey Pyatt, die Post-Janukowitsch-Regierung. Über das Vorgehen der USA auf dem Maidan gibt es noch viele Details zu erfahren und zu klären, aber die meisten dieser Informationen sind streng geheim und werden bestens gehütet. Was wir aber mit Sicherheit wissen, ist, dass die USA wiederholt über die Ereignisse auf dem Maidan gelogen haben. Wie ich in dem von Ihnen angesprochenen Artikel ausführe, begann daher der Krieg im Februar 2014.

Sie haben kürzlich geschrieben, der Krieg sei provoziert worden. Wer hat den russischen Einmarsch im Februar 2022 zu verantworten?

Auslöser des Krieges war vor allem der Versuch der USA, das NATO-Militärbündnis auf die Ukraine und Georgien auszudehnen. Dies war ein großer Fehler, wie von US-Spitzendiplomaten, darunter George Kennan, Henry Kissinger, Jack Matlock, William Burns, William Perry und viele andere, vorhergesagt wurde. Die Politiker hörten jedoch auf den militärisch-industriellen Komplex der USA und nicht auf die Diplomaten.

Hätte der Krieg vermieden werden können?

Er hätte an vielen Stellen vermieden werden können. Um nur ein paar wichtige Ereignisse zu nennen, wo es möglich gewesen wäre: Die USA hätten nicht zum Sturz Janukowitschs im Jahr 2014 beitragen dürfen. Die USA und die EU hätten darauf bestehen sollen, dass die Ukraine das Minsk-II-Abkommen im Zeitraum von 2015 bis 2021 umsetzt. Biden hätte Verhandlungen mit Putin im Dezember 2021 zustimmen sollen. Die USA hätten die Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine im März 2022 nicht blockieren dürfen.

Der Krieg hat weltweit schwerwiegende Folgen – besonders wirtschaftliche. Im Sommer 2022 wurde die Nord-Stream-2-Pipeline gesprengt. Was bedeutet das für Europa und Russland? Wer hatte ein Interesse daran, Nord Stream in die Luft zu sprengen?

Wahrscheinlich haben die USA die Pipeline in die Luft gesprengt, wie Seymour Hersh geschrieben hatte, aber die CIA gibt nun der Ukraine die Schuld. Die CIA gibt jedoch zugleich auch zu, dass sie Informationen über einen Plan der Ukraine, die Pipeline zerstören zu wollen, schon Monate im voraus hatte. Also deutet alles darauf hin, dass entweder die USA oder die Ukraine es getan haben, aber ich selbst würde immer noch auf die USA wetten.

Diese haben ein starkes Interesse daran, dass die Pipeline nicht funktioniert und nicht arbeiten kann. Biden hatte gesagt, die USA würden das Funktionieren der Pipeline wieder stoppen, wenn Russland in die Ukraine einmarschiere. Das war vor dem Einmarsch. Kurz nach der Explosion bedankte sich der ehemalige polnische Außenminister (Radoslaw Sikorski, heute Mitglied des EU-Parlaments, jW) via Twitter bei den USA für den Anschlag (auf seinem Twitter-Account schrieb er direkt nach der Zerstörung der Pipelines »Thank you, USA«, später wurde der Tweet gelöscht, jW).

Sie glauben also, dass die Enthüllungen von Hersh, der schrieb, dass es eine Aktion war, die von den USA vorbereitet und durchgeführt wurde, den Tatsachen entsprechen?

Wie ich bereits sagte, glaube ich, dass dies die wahrscheinlichste Erklärung für die Sprengung der Nord-Stream-­Pipelines ist.

In einem aktuellen Artikel mit dem Titel »Was die Ukraine aus Afghanistan lernen muss« schreiben Sie, dass die Ukraine »der weltweit größte wirtschaftliche Verlierer im Jahr 2022« sei. In Westeuropa wird uns jedoch erzählt, dass es sich tatsächlich um Russland handelt. Wie hat sich die russische Wirtschaft seit Kriegsbeginn entwickelt?

Die ist grundsätzlich stabil. Das ist im Grunde unglaublich in Anbetracht der Situation. Die Wirtschaft der Ukraine ist völlig kollabiert, sowohl aufgrund der physischen Zerstörungen während des Krieges, der teilweisen Besetzung durch Russland, des Zusammenbruchs der Exporteinnahmen, der Unfähigkeit, Schulden zu bedienen, der hohen Kriegsausgaben, des dramatischen Bevölkerungsrückgangs durch Massenmigration und der Vertreibung als auch wegen des Militärdienstes, Kriegsverletzungen und Todesfällen sowie der zunehmenden Zerstörung der Kerninfrastruktur.

Wie könnte Frieden hergestellt werden? Welche Schritte müssen unternommen werden?

Es gibt vier Hauptaspekte auf dem Weg zum Frieden: Erstens sollte die NATO endlich anerkennen, dass ihre Ausweitung auf die Ukraine und Georgien eine rücksichtslose Idee der USA war. Es war ein Plan, von dem klar war, dass er die roten Linien Moskaus überschreiten wird, wie die russische Führung schon lange gewarnt hatte. Zweitens sollte die Ukraine erkennen, dass sie einen Fehler begangen hat, als sie das Minsk-II-Abkommen nicht umgesetzt hat. Drittens sollte Russland im Rahmen eines Friedensabkommens sein Militär aus der Ukraine abziehen. Viertens sollte Europa, einschließlich Russland und der Ukraine, die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit, OSZE, neu beleben, um ein wirklich europäisches Sicherheitssystem zu haben und nicht ein von den USA geführtes NATO-System, das die Sicherheitsarchitektur Europas bestimmt. All diese Punkte zu erreichen ist durch Verhandlungen möglich, nicht jedoch durch Krieg.

Sie glauben also, dass die Enthüllungen von Hersh, der schrieb, dass es eine Aktion war, die von den USA vorbereitet und durchgeführt wurde, den Tatsachen entsprechen?

Wie ich bereits sagte, glaube ich, dass dies die wahrscheinlichste Erklärung für die Sprengung der Nord-Stream-­Pipelines ist.

In einem aktuellen Artikel mit dem Titel »Was die Ukraine aus Afghanistan lernen muss« schreiben Sie, dass die Ukraine »der weltweit größte wirtschaftliche Verlierer im Jahr 2022« sei. In Westeuropa wird uns jedoch erzählt, dass es sich tatsächlich um Russland handelt. Wie hat sich die russische Wirtschaft seit Kriegsbeginn entwickelt?

Die ist grundsätzlich stabil. Das ist im Grunde unglaublich in Anbetracht der Situation. Die Wirtschaft der Ukraine ist völlig kollabiert, sowohl aufgrund der physischen Zerstörungen während des Krieges, der teilweisen Besetzung durch Russland, des Zusammenbruchs der Exporteinnahmen, der Unfähigkeit, Schulden zu bedienen, der hohen Kriegsausgaben, des dramatischen Bevölkerungsrückgangs durch Massenmigration und der Vertreibung als auch wegen des Militärdienstes, Kriegsverletzungen und Todesfällen sowie der zunehmenden Zerstörung der Kerninfrastruktur.

Welche Auswirkungen haben die Sanktionen auf Russland?

Sie haben sehr geringe Auswirkungen auf Russland selbst. Es hat seinen Handel größtenteils nach Osten in Richtung Asien verlagert. Europa dagegen wurde hart getroffen und stürzte teils in eine Rezession. Große Probleme wirft die Situation für die weniger entwickelten Länder des globalen Südens auf, die mit höheren Nahrungsmittel-, Energie- und Düngemittelkosten konfrontiert sind.

Was ist Ihre Meinung zu Sanktionen im allgemeinen, wie sie beispielsweise gegen Venezuela und Iran verhängt wurden?

Diese einseitigen Sanktionen der USA sind nach internationalem Recht illegal. Sie haben in Venezuela und Iran große humanitäre Verluste verursacht, in Russland jedoch weniger. Ich bin gegen solche einseitigen Sanktionen. Die einzig akzeptablen Sanktionen sind meiner Meinung nach diejenigen, die der UN-Sicherheitsrat im Rahmen der UN-Charta beschlossen hat.

Sie selbst schrieben in der Vergangenheit oft darüber, dass die Wurzeln der aktuellen Situation in den Jahren nach dem Ende der Sowjetunion liegen. Damals waren, wie Sie oft betonen, Fehler gemacht worden. Als Berater waren Sie am Übergang von der Plan- zur Marktwirtschaft in der Sowjetunion und in anderen süd- und osteuropäischen Staaten beteiligt. Welche Fehler wurden sowohl in Russland als auch international nach dem Ende der Sowjetunion gemacht?

Die Fehler wurden von den USA begangen, indem sie es versäumten, die Sowjetunion bzw. später Russland mit dringend notwendiger finanzieller Hilfe zu unterstützen. Also Finanzmittel in der Art und Weise, wie ich sie für die erfolgreichen Reformen Polens einwerben konnte. Dasselbe hatte ich auch für Russland angeregt. Meine Empfehlungen, Russland zu helfen, wurden zwischen 1991 und 1993 vom Weißen Haus abgelehnt, was den wirtschaftlichen Zusammenbruch in Russland noch verstärkte. Das war ein schwerer Fehler des Westens. Das habe ich auch damals immer wieder betont.

Im Anschluss daran: Was hätte anders gemacht werden sollen? Kann die aktuelle Situation zum Beispiel von den Vereinten Nationen oder anderen Institutionen gelöst werden? Viele Länder fordern beispielsweise ein Ende des Sicherheitsrats oder die Suspendierung Russlands. Während des Kalten Krieges hat man solche Ansinnen nicht einmal gehört.

Die Idee »Russland canceln« ist dumm. Wir brauchen Frieden und Versöhnung, keine sogenannte Cancel culture, insbesondere nicht, wenn es um ein derart großes Land mit einer großen Kultur geht. Diese Cancel culture – auf diplomatischer und zwischenstaatlicher Ebene – gibt es nicht nur in den Vereinten Nationen, sondern sogar in der Kunst. In manchen Konzertsälen werden zum Beispiel Tschaikowski und Rachmaninow nicht mehr gespielt. Das ist sehr traurig, dumm und kontraproduktiv.

Das führt mich zu meiner letzten Frage: Sie kritisieren seit langem die US-Außenpolitik und fordern eine Neuausrichtung. Welche Rolle spielen Ihrer Meinung nach die USA im aktuellen Krieg in der Ukraine und, zweiter Teil der Frage, wie sollte die US-Außenpolitik aussehen?

Wir brauchen eine multipolare Welt, in der jede Region, also EU, Afrikanische Union, ASEAN, Mercosur, Eurasische Wirtschaftsunion, China, Indien und die USA, innerhalb ihrer Region und auch über Regionen hinweg friedlich mit anderen zusammenarbeitet. Wir brauchen keinerlei Hegemonie. Die USA sollten ihre Idee streichen, die Welt anzuführen. Das ist eine lächerliche Idee für ein Land mit nur 4,1 Prozent der Weltbevölkerung. Kein Land wird die Welt »führen« können. Wir brauchen eine Zusammenarbeit über Kulturen und Regionen hinweg.

Wir brauchen insbesondere Zusammenarbeit, um eine nachhaltige Entwicklung zu erreichen, wie sie in den 17 Sustainable Development Goals der UN und dem Pariser Klimaschutzabkommen zum Ausdruck kommt. Krieg führt uns weiter von einer nachhaltigen Entwicklung weg. Tatsächlich bedroht der Krieg unser Überleben. Und warum führen wir weiterhin Krieg? Wegen schrecklicher und naiver Ideen wie der NATO-Erweiterung oder der Hegemonie der USA.

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